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Geschichte zur Tarotkarte "Der Narr"

Ich sah eine endlose Weite von Bergen und Gletschern, strahlenden Gipfeln und tiefgrünen Tälern; und ich sah den unermeßlichen Himmel überall.
Und vor mir tat sich ein unauslotbarer Abgrund auf.
Ein Mann tanzte dort vor meinen Augen, am Rande des Abgrunds, zwischen den Felsen und Hochgebirgsblumen. Seine Bewegungen waren leicht und graziös, als er in fröhlicher Selbstvergessenheit von einem Felsen zum anderen hüpfte - sein Körper elastisch wie ein Bambus, sein Rücken gebogen wie der eines Panthers.
Ganz offensichtlich führte sein Bauch den Tanz an, trug ihn fort; Beine und Oberkörper folgten und fügten sich harmonisch. Für einen Augenblick - oder war es eine Ewigkeit? - stutzte er am Rande des Abgrunds, hängend zwischen Leben und Tod - seinen Kopf zurückgeworfen voller Hingabe; und die Augen, die ich aus der Entfernung erkennen konnte, waren völlig leer, vielleicht in einen unsichtbaren Stern versunken.
Dann würde er wieder springen, mit einer Pirouette oder einem Salto auf eine neue Höhe, einen neuen Felsen, eine neue Blume. Es war das Bild extremer Gefahr und höchsten Friedens zugleich. Ein tiefes weißes Licht wurde von überall her reflektiert, ohne irgendeinen Schatten zu hinterlassen. Und die Berge barsten vor Leben. Die Felsen erzählten unbekannte Geschichten der Schöpfung. Und ich gewahrte eine gewaltige Unendlichkeit, die in mich eindrang, eine Kraft und einen Segen von immenser Würde. Und jede Farbe, jede Form war schwanger mit Bedeutung, mit Energie. Jede Blume war ein Ausdruck aller Zeit, allen Raumes und allen Entzückens. Und ich konnte die Vergangenheit und die Zukunft in der Gegenwart sehen, und die Gegenwart explodierte in alle Richtungen - von Augenblick zu Augenblick tiefer in den Schoß der Ewigkeit.

Gedanken und Gefühle waren verschwunden, das Gehirn war völlig still; ich war verdutzt. Dann - aus tiefer Stille hörte ich eine Stimme des Windes:
"Das ist der Mensch, das ist Gott",
flüsterte es in meine Ohren,
"er steht immer am Rande des Abgrunds. Nur ein Schritt weiter und es ist vorbei, ein für alle Male. Wir sind nur einen Schritt weit vom Abgrund geboren; und dieser Schritt ist es, was wir tun können. Dieser Schritt muss genossen werden als ein großer Segen.
Siehst du?
Er tanzt, wo du vor Furcht zittern würdest. Es ist ein Tanz zum Tod hin, ein Feiern dieser Existenz von Augenblick zu Augenblick. Und wenn es hier so schön ist, so nahe am Abgrund, wie viel schöner wird es sein, hineinzufallen, und einfach nur zu fallen fallen fallen.....
Das ist Ekstase: außerhalb des Körpers zu sein. Im Körper und doch draußen, außerhalb und doch drinnen, denn wir sind überall, in allen Körpern, in allem Leben. Wenn du nicht bist, bist du überall, wenn du eine Null bist, dann bist du das Ganze geworden.
Er ist nicht", fuhr die Stimme fort, "in dem Sinne, wie du bist. Du jedoch bist wie er in jeder Hinsicht. Sein Glück ist deines, denn die Suche nach Glück braucht kein Motiv, kein Warum; sie ist der Urzustand der Dinge, die Quelle.

Sein ist Glück, Sein ist Energie; und Energie, wie schon die Dichter sagen, ist ewiges Entzücken. Jetzt kannst du mich hören; ich bin die Stimme des Windes. Der Wind bläst durch das Tal, liebkost die Bäume und läßt eine tiefe Musik ertönen. Kein Musiker spielt, nur die Musik im Wind. Sie ist wie das Schreiten in den Schritten des Narren. Und doch gibt es keinen Wind und keinen Narren....."

Und nun wurde das Schweigen sehr tief, und meine Augen fielen zu, und ich fühlte mich unendlich allein.

"Ja", sagte die Stimme, "du verstehst. Und nun ist es gut zu vergessen."

Ich konnte nicht verstehen, aber ich weiß: nie werde ich vergessen.


aus: Mario Montano: Poker mit dem Unbewussten, S.15-17


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