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Tautropfen

Sie stand, regungslos, verschlossen, zwischen all den anderen Blumen auf einer Waldlichtung. Sie wusste, dass es an der Zeit war, aufzublühen, zu zeigen, wie ihre Blüte aussah, doch sie zögerte noch. Obwohl sie die warmen Sonnenstrahlen spürte und den Wind, der sie streichelte, hatte die Blume Angst. "Was, wenn ich kleiner bin, schwächer und häßlicher als all die anderen Blumen da draußen? Wofür sollte ich dann aufblühen, ich ginge doch nur unter in der Pracht der anderen." Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe, er fraß sich tief in ihr Inneres und die Angst der kleinen Blume wuchs mit jeder Vorstellung von der Außenwelt mehr. Doch umso mehr wollte sie auch blühen; umsomehr drängte sich der Wille zum Leben in ihr kleines Herz. So vergingen die Tage, bis der Zeitpunkt kam, an dem die kleine Blume glaubte, aufgrund ihres Zögerns sterben zu müssen, bevor sie richtig erwacht war. Um sie herum war es still, denn es war eine kalte klare Nacht hereingebrochen, in der alles, was lebte, sich kauernd zu schützen versuchte. "Jetzt kann mich wenigstens niemand sehen, wenn ich meine Knospe öffne", dachte sie und wagte einen vorsichtigen Blick hinaus. Sie sah zu einem funkelnden Stern empor. Auf magische Weise fühlte sich die Blume von seinem Glanz berührt und getrieben von Neugierde und Faszination öffnete sie ihren Kelch und streckte sich dem Nachthimmel entgegen. Sie erkannte, daß ihre Blütenblätter blau waren, dunkelblau. In eben derselben Farbe wie der Himmel, der sich über ihr erstreckte. In ihrer Mitte lag ein Tautropfen, der das Funkeln der Sterne aufnahm und tausendfach zurückwarf. Plötzlich begriff die Blume. Die Welt über ihr in ihrer Endlosigkeit spiegelte sich auf ihrer Blüte wieder, vereinigte sich in ihr! Sie begriff, dass der Sinn ihres Blühens die Geburt einer neuen Welt war, ihrer Welt. Leidenschaftlich und taumelnd vor Freude entfaltete sie all ihre Pracht und vergaß dabei ganz die Kälte um sich herum. Wie eine Träne des Glücks perlte der Tautropfen über ihre zarten Blütenblätter und tropfte neben ihr ins Gras.

Noch in derselben Nacht erfror die Blume.

Ein paar Tage später trat an eben der Stelle, wo der Tautropfen niedergefallen war, ein kleiner Sproß ans Licht. Er wuchs schnell und hoch und entfaltete gleich darauf eine wunderschöne tiefblaue Blüte. Die Blume hatte verstanden. Jetzt wusste sie, was es heißt zu leben.

Quelle: ich :-)


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