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Erzählung zur Tarotkarte "Der Magier"

Ich sah einen einzelnen Mann, der mit der Hand eine brennende Fackel hochhielt, während die andere in einer Geste großer Entspannung auf den Erdboden deutete. Vor ihm stand ein alter hölzerner Tisch, glatt poliert und geschnitzt, auf dem ein großes, altertümliches Schwert lag, neben einem kräftigen, frisch geschnittenen Stab, einem silbernen Kelch, der mit einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt war, und einem handtellergroßen, goldenen Pentakel, in dem sich die Flammen der Fackel wiederspiegelten. Und ich sah weiße Lilien und rote Rosen zu seinen Füßen wachsen, als ob sie sich ihm nähern wollten, bereit, seinem stillen Befehl zu lauschen und in seinem Licht zu baden. Strahlende Wärme strömte aus seinen Augen, als er sich umsah, langsam den Kopf drehte, als warte er auf etwas, wobei tiefe Atemzüge Bauch und Brust hoben und senkten.
Als mein Blick dem seinen begegnete, sah ich, wie die Fackel verschwand und der Mann seine Hände in Ruhe faltete. Dann sah ich, daß er die Lippen bewegte; und ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit darauf, weil ich ihn wirklich hören wollte. Er begann zu sprechen, so langsam und so intensiv, daß ich die Harmonien eines jeden Lautes, den er äußerte, ebenso wie das Schweigen hören konnte, das mächtig zwischen den Worten auftauchte.

"HIER..."

begann er; und plötzlcih spürte ich die Gegenwart des Raumes um uns herum, als ob alles hier geschehen könnte....

"BIN..."

... und er war es sicherlich. Zum ersten mal konnte ich das Sein sehen, ein nacktes, mächtiges, allumfassendes Sein, das hier und jetzt, im Zentrum von Raum und Zeit geschah. Dieser Augenblick ist Kraft, das spürte ich, die einzige Kraft.

"ICH..."

fuhr er fort mit seiner tiefen, vollen Stimme. Dann berührte der Mann das Schwert auf dem Tisch. Und ich sah, wie sich ein Sturm über uns zusammenbraute, ein Wolkengetümmel. Da waren Ritter, die mit Drachen kämpften und dann in Wirbeln verschwanden, und es wurde sehr dunkel; und ich hörte den Donner genau über meinem Kopf, hörte Pferde wiehern und überall Schwerter aufeinanderklirren. Und es fiel ein Regen, dick wie öl, der überall eindrang und langsam alle Konturen wegwusch - auch die Geräusche schwanden, als ein einziger Sonnenstrahl wie eine Klinge durch die Wolken schnitt und einen tiefblauen Himmel im Osten freilegte. Da nahm der Magier langsam seinen Stab in die rechte Hand und deutete auf den klaren Himmel über uns. Und ich spürte, wie in meinen Adern Feuer erwachte; ich spürte jenen unstillbaren Durst, der alle Wasser austrocknen könnte, und ich spürte die enorme Kraft meines Körpers, die Kraft zur Bewegung und zur Tat. Tiefe Energien schickten Schauer meine Beine hinunter. Und dann sah ich die Sonne, und sie brannte, aber ich konnte sie nicht lange ansehen. So wandte ich die Augen ab und bemerkte die dunklen Beine meines Schattens. Die Sonne begann, schnell über den Himmel zu laufen; und ich fing an schneller zu gehen, um mit der Sonne Schritt zu halten. Der Schatten folgte mir immer schneller, bis wir beide auf dem Strand liefen, in den Sonnenuntergang hinein.
Als die Sonne am Horzont den Ozean berührte, hob der Magier seinen silbernen Kelch mit beiden Händen und trank einen langen Schluck daraus. Ich hielt an. Das Meer war zu einem blumenreichen See geworden, an dessen Ufern hohes Gras wuchs; und eine sanfte Brise lag in der Luft. Auf dem Gras stand eine wunderschöne Bank, auf der ich eine Weile ausruhte. Und ich fing an zu weinen, schloß die Augen und spürte die Tränen über meine Wangen fließen. Ich weinte um die Schönheit, die ich sah, und um das Alleinsein in mir, und aus Traurigkeit und Freude, und ich weinte um meine Gefühle und um meine Liebe. Ich fühlte, wie meine Tränen mich erfüllten, wie sie mich liebten und nährten.
Der Magier lachte jetzt, als er das goldene Pentakel vom Tisch nahm und mit beiden Händen auf seinen Bauch legte. Dann schloß er die Augen und ruhte in sich. Er strahlte große Gelassenheit und eine allmächtige Daseinsfülle aus. Meine Augen schlossen sich ebenfalls; und ich ließ meine Hände auf meinem Bauch ruhen und spürte das Leben und die Schwere in mir.
Plötzlich fing der Magier wieder an zu lachen, und als ich meine Augen öffnete, sah ich wie er mich belustigt betrachtete, mich, den Idioten, der auf seine Tricks hereingefallen war.
"Schönen Dank für die netten Träume" - ich versuchte, wirklich sarkastisch zu klingen - "Wie wär's denn nun mit ein bißchen Realität?" Er sah mir gerade in die Augen und sagte:
"Realität ist nur ein Begriff, den du benutzt, um Träume zu unterscheiden. Sie ist nur ein Trick, der dich dein Gesicht bewahren und dich glauben läßt, daß du wirklich bist. Nun, das bist du nicht. Du bist ein Traum, und zwar ein Traum, der einen anderen 'nur ein Traum' nennt! Zwei Träume, die einander träumen, verstehst du? Aber damit dein Traum geschieht, bist du, der Träumer, vonnöten. Damit der Traum beginnen kann, muss der Träumer erst sich selbst träumen. So träume also weiter und sei dankbar, daß du träumst, mein Freund. Andernfalls würdest du nicht existieren."
"Was ist deine Macht?", fragte ich ihn barsch, da mir nicht gefiel, was seine Worte in meinem Kopf anrichteten. "Meine Macht", sagte er, "ist die Macht des Wortes. All die unendlichen Welten werden durch die Worte hervorgerufen, die ich äußere."
"Aber du hast mir gerade vier Welten gezeigt, ohne daß du ein einziges Wort gesagt hast!"
"Das Wort muss nicht gesprochen werden", antwortete er. "Das Wort ist die Absicht hinter dem Wort, das Wissen um Macht und die Bestätigung des Willens. Durch diese Stärkung schaffe ich meine Wirklichkeit; durch die bildliche Vorstellung lasse ich meinen Wunsch Gestalt annehmen, ebenso wie du auch - mit dem Unterschied, daß du nicht weißt, daß du es tust, weil du nicht weißt, was du tust. Auch du schaffst deine Welt durch die Macht der Worte, die du formulierst, auch du - ob du es nun weißt oder nicht - materialisierst deine eigenen Gedanken. Bitte sei dir dessen bewußt, verstehe es, und beginne, Verantwortung zu übernehmen für diese, deine Welt, wie du sie geschaffen hast. Verstehst du? Dieses ganze Universum ist nichts als deine ganze mächtige Projektion. Das Leben ist magisch, magischer als die Magie selbst. Und du bist der Magier, mein Freund. Deine Freiheit ist total, und daher ist deine Verantwortung riesengroß."
Er hielt inne, um zu sehen, wie ich reagierte.
"Tausend Dank", sagte ich ärgerlich, "aber das ist alles ein bißchen zu viel für mich. Ich bin schließlich nur einszweiundsechzig groß, weißt du; und ich schere mich keinen Deut um dein verdammtes Universum!"...
Doch plötzlich war der Magier nicht mehr da. Verschwunden mit seinem Tisch, seinen Blumen, seinen Zauberkünsten; und ich stand da, verwirrt, und fühlte mich bis an meine Grundfasern erschüttert. "Bin ich nun wirklich oder bin ich ein Traum?"
Und ich merkte, wie niemand da war, um mir zu antworten.

aus: Mario Montano: Poker mit dem Unbewussten, S. 18-21


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